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Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg wurde am 30. Oktober 1959 geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und promovierte an der Technischen Universität Berlin. Er ist Inhaber einer Honorarprofessur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Dresden. Seit April 1999 ist er bei Mercedes-Benz als Centerleiter Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit und Korrosionsschutz tätig. Unter seiner Leitung ging 2002 das präventive Insassenschutzsystem PRE-SAFE® in Serie, mit dem Mercedes-Benz in eine neue Ära der Fahrzeugsicherheit startete. Im Gespräch äußert sich Prof. Schöneburg zum Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2019.
Herr Professor Schöneburg, vor zehn Jahren, beim ESF 2009, sagten Sie, dass Mercedes-Benz noch viele Ideen für neue Sicherheitssysteme habe, speziell auf dem Gebiet der Passiven Sicherheit sowie beim präventiven Schutzsystem PRE‑SAFE®. Ist diese Aussage auch noch 2019 gültig, gehen Mercedes-Benz nach wie vor die Ideen nicht aus?
Schöneburg: Die Ideen für Sicherheitsinnovationen gehen uns bestimmt nicht aus. Und genau das ist ja ein Grund, warum wir jetzt das ESF 2019 gebaut haben. Wir möchten damit zeigen, an welchen Ideen und Konzepten unsere Sicherheitsexperten bei Mercedes-Benz aktuell forschen und entwickeln, mit denen die Sicherheit weiter verbessert werden kann. Und wie man am ESF 2009 sehen kann, ist das mehr als eine bloße Fingerübung. Viele unserer dort präsentierten Ideen sind inzwischen bei Mercedes-Benz in Serie gegangen.
Können Sie dafür bitte ein Beispiel nennen?
Gerne. Beispielsweise das partielle Fernlicht, umgesetzt im Adaptiven Fernlicht-Assistenten Plus. Oder der inzwischen für die E- und S-Klasse verfügbare Beltbag: Dieses aufblasbare Gurtband kann das Verletzungsrisiko von Fondpassagieren beim Frontalaufprall reduzieren, indem es die Belastung auf den Brustkorb verringert. Und was beim ESF 2009 noch PRE-SAFE® Pulse hieß, bieten wir inzwischen als PRE-SAFE® Impuls Seite für E-Klasse, CLS und GLE an: Bei einem drohenden Seitencrash kann dieses System den Fahrer oder Beifahrer präventiv seitlich ein kleines Stück vom Gefahrenbereich weg bewegen. Zusammen mit den bekannten PRE-SAFE® Schutzkonzepten für Frontal- und Heckcrash entsteht dadurch eine Art virtuelle Knautschzone rund ums Fahrzeug. Das nennen wir PRE-SAFE® 360°.
Der ursprüngliche Begriff Knautschzone als gezielter Verformungsbereich des Autos geht auf den Mercedes-Benz Sicherheitspionier Béla Barényi zurück. Aber was genau verstehen Sie unter einer virtuellen Knautschzone?
Die reale Knautschzone dient ja dazu, die Energie bei einem Crash abzubauen, um die Passagiere zu schützen. Die virtuelle Knautschzone beschreibt die Zeitspanne von dem Punkt an, ab dem das Fahrzeug aufgrund der Sensorik in der Vorunfallphase reagiert, bis zum Aufprall. Dringt also ein Objekt oder ein Verkehrsteilnehmer in die virtuelle Knautschzone ein, können noch wertvolle Maßnahmen zum Schutz der Passagiere und der Unfallpartner umgesetzt werden. Das ist möglich über PRE-SAFE® und PRE-SAFE® Impuls Systeme, aber auch mit Hilfe konventioneller Rückhaltesysteme.
Profitieren davon in erster Linie Fahrer und Beifahrer oder auch die Passagiere auf der Rückbank?
Die virtuelle Knautschzone dient der Minderung der Unfallschwere und hilft in vielen Fällen allen Unfallbeteiligten. Ein wichtiger Themenschwerpunkt des ESF 2019 ist aber auch die Sicherheit auf den Rücksitzen. Zu den Innovationen in diesem Bereich zählen unter anderem der Fond-Airbag mit seiner neuartigen Röhrenstruktur oder der Kindersitz mit PRE-SAFE® Funktionen. Bei ihm werden vor einem Crash präventiv die integrierten Gurte gestrafft und Seitenaufprallschutz-Elemente ausgefahren.
Das ESF 2009 baute auf einer S-Klasse auf, das ESF 2019 ist jetzt erstmals ein SUV. Warum?
Das ist richtig, das ESF 2019 basiert auf dem neuen GLE. SUV sind bei unseren Kunden sehr beliebt, und wir haben derzeit sieben erfolgreiche Modelle im Modellprogramm. Da lag es für uns nahe, dass wir die Sicherheitsthemen von morgen exemplarisch an einem SUV vorstellen. Außerdem ist der neue GLE mit seinen innovativen Fahrassistenzsystemen derzeit ein Schrittmacher auf dem Gebiet der Fahrzeugsicherheit.
Mercedes‑Benz hat sich schon immer auch um den Schutz anderer Verkehrsteilnehmer gekümmert – gilt das weiterhin?
Ja, daran knüpft das ESF 2019 mit neuen Ideen an. Ein Beispiel ist die kooperative Fahrzeug-Umfeldkommunikation: Das ESF 2019 kann auch andere Verkehrsteilnehmer warnen, selbst wenn es unbeteiligt am Straßenrand steht. Hinzu kommt der 360° Fußgängerschutz, der gefährliche Situationen mit schwächeren Verkehrsteilnehmern beim Parken und Manövrieren entschärfen kann. Auch der bereits bekannte Aktive Brems-Assistent wurde für weitere Verkehrssituationen ausgelegt.
Brenzlige Situationen mit Fußgängern kennt wohl jeder, und die genannten aktiven Systeme helfen da weiter. Werden auch die Systeme der Passiven Sicherheit vor dem Hintergrund des realen Unfallgeschehens entwickelt?
Natürlich, denn unsere Sicherheitsphilosophie ist „Real Life Safety“. Neben Simulationen und Crashversuchen ist für uns das reale Unfallgeschehen ein wichtiger Aspekt. Wir haben intern daher strenge Sicherheitsvorgaben, die in vielen Fällen über die gesetzlichen Vorgaben oder Ratinganforderungen hinausgehen. Und unsere Unfallforschung gehört zu den ältesten der Branche: Seit 50 Jahren untersuchen unsere Experten schwere Unfälle mit Beteiligung aktueller Mercedes-Benz Fahrzeuge. Ziel ist es, daraus zu lernen und die Erkenntnisse in die Konstruktion neuer Modelle einfließen zu lassen. Sicherheit ist und bleibt unser Markenkernwert.
Aber gibt es in Zukunft überhaupt noch Unfälle? Das ESF 2019 ist doch ein in vielen Situationen vollautomatisiert fahrendes Auto?
Der große Vorteil von automatisierten Fahrfunktionen liegt darin, dass in Zukunft weniger Unfälle durch Fehler des Fahrers verursacht werden könnten. Aber es wird sicherlich noch viele Jahre einen Mischverkehr aus automatisierten und nicht-automatisierten Fahrzeugen geben. Außerdem bietet die zunehmende Anzahl an Sensoren Potenzial für die Passive Sicherheit – Stichwort virtuelle Knautschzone.
Aber ohne reale Knautschzone und moderne Rückhaltesysteme wird es auch weiterhin nicht gehen, oder?
Richtig. Denn auch vollautomatisierte und fahrerlose Fahrzeuge werden an physikalische Grenzen stoßen. Das kann der Baum sein, der bei Sturm unmittelbar vor das Auto fällt, ohne dass dieses rechtzeitig bremsen oder ausweichen kann, oder Unfälle, die von anderen Verkehrsteilnehmern verursacht werden. Denn nicht alle Fahrzeuge fahren morgen schon automatisiert. Daher haben wir auch Ideen im ESF 2019, die den Schutz von Passagieren im Fond verbessern. Beispielsweise, indem wir zum Anschnallen animieren. Auch der neuartige Röhrenstruktur-Fondairbag ist ein gutes Beispiel. Und, mir ganz besonders wichtig: Im ESF 2019 stecken viele Ideen für einen verbesserten Schutz von Kindern – sowohl im Auto als auch außerhalb.
Automatisierte Autos wie das ESF 2019 sind ein Beitrag zur Vision Zero, der Vision vom Fahren ohne Tote oder Verletzte. Gibt es aber auch neue Herausforderungen?
Ja, denn die viel flexibleren Sitzpositionen erfordern einen anderen Schutz der Insassen. Auch dazu machen wir uns selbstverständlich Gedanken – und verraten beim ESF 2019 einige Ideen wie die neue Gestaltung des Fahrer-Airbags oder den integralen Seitenairbag, der sich zu beiden Seiten aus der Rückenlehne des Sitzes entfaltet. Für mich ist ganz klar: Ein sicheres Fahrzeug nutzt alle Möglichkeiten der Unfallvermeidung, ist aber immer auch darauf vorbereitet, dass es einen Unfall geben könnte. Daher werden alle unsere zukünftigen Fahrzeuge, auch die automatisierten, selbstverständlich unsere hohen Anforderungen an die Crashsicherheit erfüllen.